Anatomie in Tübingen

Die Arbeit mit AnatomieleicheN: Eine Betrachtung aus der Tübinger Anatomie

von Bernhard Hirt, entnommen aus Entgrenzte Anatomie: Eine Tübinger Wissenschaft im Nationalsozialismus: Braam, Leonie, Schönhagen, Benigna, Tümmers, Henning (Hg.), Tübingen 2023, ISBN 978-3-949680-05-2

Vor über 250 Jahren kam es in der Tübinger Anatomie zu einer Änderung des Lehrplans, die man aus der lehrdidaktischen Betrachtung heraus als Revolution bezeichnen kann: Der damalige Lehrstuhlinhaber für Anatomie, Professor Georg Friedrich Sigwart (1711-1795), entschied, dass die Studierenden durch selbstständiges Sezieren von Leichen Kenntnis von anatomischen Strukturen und Variationen erlangen sollten. Studierende nahmen erstmals aktiv, vielleicht bereits kollaborativ, am Unterricht teil. Das nun regelmäßig stattfindende Unterrichtsformat trug laut Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1764/65 den Namen „Cursus demonstrationum anatomicum et operationum chirurgicum“.1 Heute nennen wir es Präparierkurs.

Die Arbeit an Leichen und Leichenpräparaten hat in der medizinischen Ausbildung an der Universität Tübingen seit der Gründung eine zentrale Rolle eingenommen. In den ersten 280 Jahren wurden öffentliche Leichensektionen durchgeführt. Seit rund 250 Jahren findet die sensible Arbeit an Leichenpräparaten hinter verschlossenen Türen statt. Ohne Einsichtnahme der Öffentlichkeit hat sich in der Anatomie ein Wissenschaftsfach entwickelt, das mit größter Objektivität, und somit frei von Meinungen, Gefühlen und Interessen, die komplexen Strukturen und Zusammenhänge am Modell des „normalen“, nicht-krankhaften Körpers beschreibt und an Studierende weitergibt.

Wie wichtig ist die öffentliche Einsichtnahme bei der Organisation der Arbeit mit anatomischen Leichenpräparaten? Gerade vor dem Hintergrund der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus erscheint die tradierte und weltweit gelebte Abschottung innerhalb enger wissenschaftlicher Fachgrenzen problematisch.

Auf dieser Seite gibt ein Anatom Einblicke in die Arbeit mit Leichen und stellt Betrachtungen aus dem Blickwinkel der heutigen Zeit an.

  1. Georg Friedrich Sigwart: Öffentliche Rede von den Vortheilen und Vorzügen der neuen Anatomischen Anstalt auf der hohen Schule zu Tübingen bei Übergebung seines Prorektorats in Anwesenheit des Herzogs Carl, Tübingen 1772, zitiert nach Klaus Mörike: Geschichte der Tübinger Anatomie (Contubernium, 35), Tübingen 1988, S. 32. ↩︎

Die Rolle der Tübinger Anatomie im Nationalsozialismus wird aktuell auch durch das Projekt »Gräberfeld X« beleuchtet. Weitere Informationen zum Projekt sowie zur aktuell stattfindenden Ausstellung in der Alten Anatomie am Österberg finden Sie auf der Webseite des Projekts:

Auszug aus Entgrenzte Anatomie: Eine Tübinger Wissenschaft im Nationalsozialismus

von Leonie Braam, Benigna Schönhagen, Henning Tümmers (Hg.), Tübingen 2023, ISBN 978-3-949680-05-2

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